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Der (Grenz-)Verleger Lojze Wieser setzt sich seit über zwei Jahrzehnten für die kleinen und unbekannten Literaturen der östlichen Nachbarn ein und begründete die „Enzyklopädie des europäischen Ostens“. Für Wieser ist die Kommunikation in der eigenen Muttersprache ein Menschenrecht, das jedem zustehen müsste.

„Ich glaube, wenn man eine vergleichende Literaturstudie der europäischen Literaturen, nicht nur mit den großen imperialen Literaturen als Gradmesser machen würde, sondern versuchen würde, einen unkonventionellen Schnitt durch diese Literaturen, wie eine archäologische Ausgrabung, zu machen, indem man die Schichten schneidet und sie dann betrachtet und diese Literaturen übereinander legt, könnte man sehr viele, zum Teil nur zeitverschobene Ähnlichkeiten entdecken. Und man würde wie ein Geologe in der Seele der Menschen dieser Regionen forschen können.“ (Lojze Wieser in seinem Buch „Die Zunge reicht weiter als die Hand“, Wien 2004, S. 79)

„Sprache ist Grundlage des Menschseins“

redaktionsbüro: Antje Mayer
Lojze Wieser:
- Innerhalb der EU gibt es ein Ungleichgewicht, ja sogar eine Hierarchie der Sprachen: Die großen Sprachen wie Englisch, Deutsch, Französisch verdrängen die kleinen. Hat sich dahingehend seit der Osterweiterung etwas verändert? Annähernd 50 Sprachen werden zwar im Westen gesprochen, inzwischen aber allein doppelt so viele im Osten der Europäischen Union.
- Man leistet sich diese Arroganz, weil man sich tatsächlich wichtiger vorkommt. Es ist nachvollziehbar, dass kleineren Sprachen geringere Beachtung geschenkt wird, aber sie stehen den großen freilich um nichts nach. Nicht selten sind sie viel bildreicher und differenzierter.



- Wir können aber schlecht alle EU-Sprachen erlernen, um miteinander ins Gespräch zu kommen?
- Ich vertrete die Idee einer kommunikativen Sprache, wie es zum Beispiel das omnipräsente Englisch ist. Daneben fordere ich das demokratische Recht jedes Einzelnen auf einen Dolmetscher, der einem erlaubt, sich in der eigenen Muttersprache genau und differenziert auszudrücken, dann, wenn die Person es für notwendig hält. Wenn man so zweigleisig fährt, könnte man der Macht der großen Sprachen entgegentreten. Die Investitionen, die man dahingehend tätigen müsste, machen ein Minimum von dem aus, was damit an Konflikten abgewendet werden würde. Jegliches Argument, dass man sich das nicht leisten könne, ist geradezu lächerlich, wenn man sich mal die Tragweite des Sprachproblems wirklich bewusst macht.
- Sprache bedeutet seit Menschengedenken auch immer Machtausübung. Glauben Sie, dass Länder mit einflussreichen Sprachen sich diesbezüglich bewusst selbst fördern bzw. begünstigen?
- Warum können wir in vielen Fällen noch immer keine E-Mails mit Sonderzeichen schreiben, die aber ein wesentlicher Bestandteil mancher slawischen Sprachen sind? Die Sprachen werden durch solche Einschränkungen amputiert. Sie brauchen nur zu schauen, welche Länder hinter der Entwicklung solcher Technologien stehen. Die Verfügbarkeit von Sonderzeichen ist etwa für das Französische kein Problem, aber für slawische Sprachen nach wie vor schon. Ist es nicht eine Frage des Respekts und der Demut, dass man einen Namen so schreibt, wie er in seiner Herkunftssprache eben buchstabiert wird?

Ein führender Herr des deutschen Buchhandels hat mir 1990, als ich ein Referat vor 100 Verlegern und Journalisten in München gehalten habe, auf den Vergleich hin, dass seit 1945 annähernd 1.500 polnische Werke in der Bundesrepublik erschienen sind und dagegen aus einem Teil des südslawischen Raumes, aus der slowenischen, kroatischen, serbischen und makedonischen Sprache in 200 Jahren kaum eineinhalb Bücher pro Jahr übersetzt worden sind, lakonisch bemerkt: „Sie dürfen nicht vergessen, Herr Wieser, in Polen haben wir wirtschaftliche Interessen.“ Das ist die klarste und deutlichste Antwort.
- Ist es nicht trotzdem besser, wenn die Menschen in wenigen gemeinsamen Sprachen kommunizieren, bevor sie es gar nicht tun? Zumal ich von meiner täglichen Arbeit als Redakteurin her weiß, wie teuer und aufwändig gute Übersetzungen sein können.
- Wir brauchen eine kommunikative Sprachebene, keine Frage. Kommunikative Sprachen sind etwa das Englische oder Italienische, aber auch das Russische, das Serbische oder Kroatische. Die Hälfte der EU-Bevölkerung ist immerhin slawisch und steht mit ihrer Muttersprache den zuletzt genannten Sprachen näher. Die so genannten Minderheitensprachen sind doch in der EU die Mehrheit und die so genannten Mehrheitssprachen sind in der EU die Minderheit. Es existieren in Europa gut 200 lebende Sprachen. In jedem Staat Europas gibt es im Schnitt vier so genannte Minderheiten. Angesichts dieser Tatsache ist es wohl angemessen, die Frage aufzuwerfen, in welchen Sprachen wir in Zukunft innerhalb der EU kommunizieren wollen und dürfen. Wie können alle Menschen gleichberechtigt ihre Bedürfnisse oder Gefühle aussagekräftig ausdrücken, wie können sie sich miteinander zufrieden stellend austauschen?
- Bisher sieht es jedenfalls in der Praxis so aus, als ob man sich innerhalb der EU, besonders in ihrem östlichen Teil, auf das Englische geeinigt hat. Wenn eine Website nicht auch auf Englisch erscheint, ist sie praktisch nicht existent. Sollte man angesichts des derzeitigen politischen Kurses der dominanten englischsprachigen Nationen wie Großbritannien und den USA deren Sprachen nicht bewusst boykottieren?
- Von Negativstrategien halte ich nichts. Das bindet nur Energie. Englisch ist praktisch. Aber es kann auch nicht sein, dass man ernsthaft darüber diskutiert, dass 1.500 englische Wörter für eine gesamteuropäische Verständigung genügen sollen.
Dass ein solches Vorgehen unglaubliche Sprengkraft in sich birgt, brauche ich nicht extra zu betonen. Wir sind in den vergangenen Jahren Zeuge geworden, welche Konflikte zwischen verschiedenen Sprachkulturen zutage treten können: Denken Sie an das Baskenland, an Bosnien, das Kosovo, Albanien oder Irland. Sprache verfügt über mehr Einfluss auf das psychosoziale Verhalten, als wir bisher in der politischen Strategie wahrhaben wollen. Und sie ist zugleich Grundlage des Menschseins. Wir müssen Sprachen die Bedeutung geben, die sie verdienen, und lernen, nicht dem Chauvinismus und dem Größenwahn Vorschub zu leisten.
- Hängt es tatsächlich von ein paar wenigen Engagierten ab, wie Sie es als Verleger und Übersetzer slowenischer Literatur und anderer kleinerer Literaturen des europäischen Ostens sind, das Sprachproblem in Europa in den Griff zu bekommen?
- Ich fürchte, ja. Als ich 1980 als Verleger begonnen hatte, hat es z. B. kein einziges slowenisches Buch in deutscher Sprache gegeben, das greifbar gewesen wäre. Inzwischen sind unter meiner Regie immerhin gut 50 Bücher erschienen und in der Reihe „Europa Erlesen“ wurden 400 Autoren und Autorinnen in Übersetzungen präsentiert. Dadurch, dass der Drava-Verlag und der Verlag Hermagoras/Mohorjeva nachgezogen haben, sind in den vergangenen 25 Jahren doppelt so viele Bücher übersetzt worden wie in der ganzen slowenischen Literaturgeschichte davor. Es ergibt keinen Sinn, nur Übersetzungen zu fördern und dann zu denken, diese würden sich wie warme Semmeln verkaufen. Sie brauchen Zusatzaktivitäten. Man sollte Autoren und Autorinnen auf Lesereise schicken, Pressearbeit machen, Interviewtermine vermitteln, Publikationen zu den Autoren herausgeben. Aber keine Frage: Es ist ein Ruck durch die Gesellschaft gegangen. Der Marktwert von Literatur aus dem slawischen Sprachraum ist in den vergangenen Jahren gestiegen, nicht zuletzt durch massiven Kapitaleinsatz der Verlage selbst.
Aber machen wir uns nichts vor. Meines Wissens steht es in der Slowakei, in Ungarn, in Serbien, der Ukraine, in Weißrussland noch schlechter um die Übersetzung der Literatur als in Slowenien.
- Gibt es in Bezug auf Sprachen inzwischen so etwas wie eine einheitliche Strategie innerhalb der EU?
- Nicht, dass ich wüsste. Es bedürfte einer langfristigen Systematik. Ich hätte dahingehend vielleicht einen brauchbaren Vorschlag: eine europäische Austauschbibliothek. Jedes Land übersetzt vorerst einmal ein Buch pro Jahr in die Sprachen, die in der Europäischen Union als offizielle Sprachen anerkannt sind – und vice versa. Würden wir z. B. mit 21 Sprachen beginnen, dann wäre das bei 25 Ländern 525 Bücher pro Jahr. Würde man das über Jahre hinweg machen können und es würde einen vergleichsweise geringen Aufwand bedeuten, hätte man wie nie zuvor die Möglichkeit, kulturelle Andersartigkeit entdecken zu können. Ganze Branchen wie die von Verlegern, Übersetzern und Lektoren würden dadurch gefördert, wären nicht mehr gezwungen, jeden Blödsinn zu übersetzen.

In Regionen mit sprachlichen Minderheiten – und wie wir gesehen haben, gibt es kein Land ohne Minderheiten – sollten Filme untertitelt, die gängigen Radiosendungen auch in den jeweiligen Sprachen gesendet werden und in den regionalen Printmedien auch Zusammenfassungen in den jeweiligen anderen Sprachen erscheinen. Das würde die Selbstverständlichkeit der vielfältigen Anwendung und der sprachlichen sowie kulturellen Andersartigkeit fördern und so das gesamte intellektuelle Niveau heben.
- Wird sich das Sprachproblem nicht von selbst lösen? Multi-ethnische Familien aller Schichten sind doch heute schon fast die Regel. Viele Emigrantenkinder wachsen zweisprachig auf und lernen in der Schule gewöhnlich noch Englisch dazu. Wer eine höhere Schulausbildung genießt, erlernt sogar noch zusätzlich zwei bis drei Sprachen...
- Das stimmt. Unsere elfjährige Tochter hat zwei Hauptsprachen – Slowenisch und Deutsch – und lernt in der Schule momentan noch Englisch und Italienisch. Das ist hervorragend! Wir Menschen können mehr Sprachen erlernen, als wir glauben. Wie die neueste Gehirnforschung zeigt, kann ein Kind besonders bis zum zweiten und dritten Lebensjahr Sprachen in einem einzigen Zentrum speichern, diese also gleichzeitig erlernen, indem es sie wie Schablonen vergleichend übereinander legt. In späteren Jahren legt der Mensch für jede Sprache ein eigenes Zentrum im Hirn an. Man tut sich danach schwerer und kann die Sprachen nur in komplizierteren Prozessen miteinander abgleichen.
- Schauen wir also doch einer rosigen Zukunft entgegen?
- Als Optimist bin ich gleichzeitig auch Pessimist. Schauen wir uns z. B. die slowenische Literatur an: Die slowenischen Literaten haben so viel Eigenständiges und viel Innovatives, Surreales und Reales, Ahnung und Erinnerung entfaltet, sie alle haben auf das Europa geschaut, das sie so wenig beachtet hat, und sie alle haben diesem Europa etwas gegeben, das dieses von ihnen kaum annehmen wollte. Und doch ist geschrieben worden und doch hat die Literatur ihren Einfluss auf all die Veränderungen gehabt, ohne die wir heute nicht von einer Renaissance der Ostliteratur in deutschsprachiger Literatur reden könnten. Die politischen Grenzen haben jahrzehntelang die kulturellen Grenzen bestimmt und tun es immer noch, aber vielleicht sind sie ein wenig durchlöchert worden.
Der Kärntner Slowene Lojze Wieser ist 1954 geboren und verlegt seit 1979 Bücher. Von 1981 bis 1986 war er Leiter des Drava-Verlages. Seit 1987 betreibt er den eigenen Wieser-Verlag, der unter anderem die populäre Reihe „Europa Erlesen“ (bisher 80 Bände) herausgibt.


2004 erschien sein Buch „Die Zunge reicht weiter als die Hand – Anmerkungen eines Grenzverlegers“, ausgewählt und redigiert von Barbara Maier, Franz V. Spechtler und Peter Handke im Czernin Verlag, Wien.

erschienen im "Magazin für Kontakt d. Erste Bank Group", issue6
kontakt.erstebankgroup.net/magazines/issue6
www.wieser-verlag.co